
Die Istanbuler Staatsanwaltschaft hat Anklage gegen 819 Personen erhoben, die an nicht genehmigten Demonstrationen teilgenommen haben. Von den Angeklagten befinden sich 278 in Untersuchungshaft. Die Protestierenden drohen Haftstrafen von bis zu fünf Jahren, in einem speziellen Fall sogar bis zu neun Jahren. Diese Entwicklungen sind eng verbunden mit den massiven regierungskritischen Protesten, die nach der Festnahme von Istanbuls Bürgermeister Ekrem İmamoğlu am 19. März ausgelöst wurden. İmamoğlu wird wegen Korruptions- und Terrorvorwürfen festgehalten und erhielt nach seiner Festnahme die Nominierung zum Präsidentschaftskandidaten der CHP.
Unmittelbar nach der Festnahme von İmamoğlu erließ das Istanbuler Gouverneursamt ein Verbot für Demonstrationen. Dieses Verbot wurde jedoch Ende März wieder aufgehoben. In der Folge fanden am Dienstag mehrere Proteste mit mehreren Hundert Teilnehmern im Stadtteil Kadiköy statt. Die CHP plant, wöchentliche Proteste an verschiedenen Orten im Land und jeden Mittwochabend in Istanbul zu organisieren. Das Vorgehen gegen İmamoğlu wird von der Opposition als Versuch der Regierung gewertet, einen bedeutenden politischen Rivalen auszuschalten. Vor der Festnahme gab es bereits eine verstärkte Repression gegen Oppositionelle, zu denen auch Ümit Özdağ, der Chef der ultrarechten Zafer-Partei, zählt. Özdağ wurde ebenfalls verhaftet; die Staatsanwaltschaft fordert hierbei bis zu sieben Jahre und zehn Monate Haft wegen Volksverhetzung oder Verunglimpfung.
Proteste und Repression in der Türkei
Nach der Festnahme İmamoğlus kam es zu Massenprotesten in der Türkei, bei denen rund 2.000 Menschen festgenommen wurden, von denen 260 in Untersuchungshaft verbleiben. İmamoğlu, der während der Regionalwahlen 2024 als Bürgermeister abgesetzt wurde, wurde zum Präsidentschaftskandidaten der CHP ernannt. Diese Partei ging als stärkste Kraft aus den Wahlen hervor, während die AK-Partei von Präsident Erdoğan auf dem zweiten Platz landete. Demonstranten beschuldigen Erdoğan, Justiz und Polizei für seine politischen Ziele zu instrumentalisieren.
İmamoğlu sieht sich schweren Vorwürfen gegenüber, darunter Korruption, Amtsmissbrauch und Unterstützung terroristischer Aktivitäten. Diese Vorwürfe beziehen sich auf angebliche Wahlabsprachen mit der pro-kurdischen DEM-Partei, während die PKK in der Türkei und der EU als Terrororganisation eingestuft wird. İmamoğlu weist alle Vorwürfe zurück und hat zudem seinen Hochschulabschluss verloren, was auf einen möglichen Verstoß gegen die Studienordnung hindeutet.
Der Bürgermeister ist der Hauptkonkurrent Erdoğans für die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen. Journalist Deniz Yücel wies darauf hin, dass die Festnahme gezielt darauf abziele, İmamoğlu als möglichen Kandidaten zu eliminieren. Umfragen zeigen, dass İmamoğlu bei verschiedenen Wählergruppen gut ankommt und in Umfragen vor Erdoğan liegt. Zudem könnte Erdoğan versuchen, Druck auf die CHP auszuüben, um politische Zugeständnisse zu erhalten, wie die Auflösung des Parlaments.
Die Proteste finden trotz eines ausgeweiteten Versammlungsverbots statt. Die Polizei geht teilweise brutal gegen friedliche Demonstranten vor, und die Istanbuler Staatsanwaltschaft fordert bis zu drei Jahre Haft für 74 verhaftete Personen. In Reaktion auf die Festnahmen hat die CHP eine Unterschriftenkampagne für die Freilassung İmamoğlus und für vorgezogene Neuwahlen gestartet. Der Journalist Deniz Yücel bezeichnet die aktuellen Ereignisse als Beginn einer Repressionswelle.
Falls İmamoğlu wegen der Vorwürfe verurteilt wird, könnte ihm ein Politikverbot und eine Gefängnisstrafe drohen. In der Türkei sind zudem viele Oppositionspolitiker, insbesondere Kurden, inhaftiert. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte fordert die Freilassung von Selahattin Demirtaş, der seit 2016 gefangen gehalten wird. Politiker und das Auswärtige Amt sprechen von Rückschlägen für die Demokratie in der Türkei, während die EU-Kommission bisher keine Maßnahmen in Bezug auf den Fall İmamoğlu ergriffen hat.
Für weiterführende Informationen zu den Protesten und der politischen Lage in der Türkei können die Artikel von Radio Herford und Deutschlandfunk herangezogen werden.