
In der aktuellen Forschung wird ein tiefgreifendes Versäumnis in den Bereichen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft deutlich. Zahlreiche Publikationen zum Phänomen der ‚Krise‘ existieren, jedoch konzentrieren sich diese meist nur auf spezifische Bereiche oder Einzelfälle. Die Wirtschaftswissenschaften bieten detaillierte Analysen zu den Ursachen und Bewältigungsstrategien von volkswirtschaftlichen und unternehmerischen Krisen. Andererseits richten sich die Geistes- und Sozialwissenschaften häufig auf die Ausrufung und Reflexion von Krisen in bestimmten gesellschaftlichen Epochen oder innerhalb ihrer jeweiligen Disziplinen, was zu einer verstärkten Diskussion über die ‚Krise der Literatur‘ und die ‚Krise der Geisteswissenschaften‘ führt, wie [oreilly.com](https://www.oreilly.com/library/view/die-wirkungsmacht-der/9783110665413/content/chapter.xhtml) berichtet.
Besonders besorgniserregend ist der Rückgang der Studierendenzahlen in den Geisteswissenschaften. Historiker Edmund Husserl thematisierte bereits vor fast 100 Jahren in seinem Werk „Die Krisis der europäischen Wissenschaften“ die Probleme innerhalb der wissenschaftlichen Disziplinen. Laut einem Bericht von [fr.de](https://www.fr.de/kultur/gesellschaft/geisteswissenschaften-in-der-krise-abschied-von-herder-und-hoelderlin-92857485.html) sinken die Einschreibungen in diese Fächer kontinuierlich. Während im Wintersemester 2016/17 noch 235.000 Studierende im Bereich Geisteswissenschaften eingeschrieben waren, fiel die Zahl bis zum Wintersemester 2021/22 auf 197.000. Auch die Gesamtzahl der Studierenden in diesem Bereich sank von 457.464 im Jahr 2011/12 auf 310.473 im Jahr 2022/23.
Entwicklung und Herausforderungen der Geisteswissenschaften
Obwohl die höchsten Studierendenzahlen in der Germanistik (93.000), Anglistik (49.000) und Geschichte (39.000) verzeichnet werden, stellt der Rückgang eine ernsthafte Herausforderung dar. Während Geisteswissenschaften unter einem gesunkenen Interesse leiden, erfahren die Wirtschaftswissenschaften einen Anstieg von 726.195 auf 1.132.153 Studierenden im selben Zeitraum. Ein weiterer Anstieg ist in Human- und Zahnmedizin sowie Ingenieurwissenschaften zu verzeichnen.
Lutz Raphael, Präsident des Verbands der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD), hat wiederholt seine Besorgnis über den Rückgang geäußert. Es wird gefordert, dass Universitäten auf demografische Veränderungen und die Folgen der Corona-Pandemie reagieren und die Ausbildungsqualität verbessern. Besonders die hohen Abbrecherquoten sollen durch bessere Betreuungszahlen gesenkt werden. Besonders die klassische Philologie und andere geisteswissenschaftliche Fächer sind stark vom reduzierten Interesse betroffen.
Ein Lichtblick zeigt sich an der Universität Münster, wo im Wintersemester 2023/24 ein leichter Anstieg der Studierendenzahlen verzeichnet wurde. Professor Reinold Schmücker schlägt vor, die Studienangebote zu diversifizieren, um das Interesse zu steigern. Diskutiert wird auch die Einführung von Querschnittsstudiengängen zwischen verschiedenen Disziplinen. Zudem soll die Qualität der Forschung und Lehre erhöht werden, um die Attraktivität der Geisteswissenschaften zu steigern. Die Rolle der Philosophie im Bereich des Transfers zur Bürgergesellschaft wird als entscheidend erachtet. Dennoch bleibt die Frage, wie die Geisteswissenschaften aus ihrer aktuellen Krise hervorgehen können, bislang offen.