
In der Türkei kommt es derzeit zu einer der größten Protestwellen seit den Gezi-Protesten im Jahr 2013. Ausgelöst wurde die Welle durch die Verhaftung des suspendierten Istanbuler Bürgermeisters Ekrem İmamoğlu am 19. März. İmamoğlu wurde in einer nächtlichen Razzia von der Polizei in Gewahrsam genommen, nachdem ihm kurz zuvor der Universitätsabschluss aberkannt wurde, was seine Präsidentschaftskandidatur gefährdet. Ihm werden Korruptionsvorwürfe gemacht, was die Wut der Bevölkerung verstärkt hat.
Unzählige Menschen, insbesondere junge Personen und Studierende, nehmen an den Protesten teil, die nicht nur in großen Städten wie Istanbul, Ankara und Izmir, sondern auch in kleineren, konservativeren Städten wie Rize und Konya stattfinden. Die Demonstranten fordern unter anderem den Rücktritt von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan und äußern ihren Unmut unter dem Slogan „Hak, Hukuk, Adalet“ (Recht, Gesetz und Gerechtigkeit).
Protestkultur und ihre Triebkräfte
Die Protestierenden bringen ihre Meinung durch lautstarke Aktionen zum Ausdruck, etwa durch das Schlagen von Kochlöffeln auf Töpfe und das An- und Ausschalten von Lichtern. Die zentrale Forderung der Demonstrierenden ist mehr Demokratie, eine wirtschaftliche Verbesserung sowie eine bessere Zukunft und Freiheit. Es hat sich eine allgemeine Unzufriedenheit entwickelt, insbesondere unter der jüngeren Bevölkerung, die in Umfragen zeigt, dass fast die Hälfte der 18- bis 29-Jährigen einen Umzug ins Ausland erwägt, wie im Bericht von Tagesschau hervorgehoben wird.
Darüber hinaus ist zu beobachten, dass viele junge Menschen, die zuvor wenig politisches Interesse zeigten, sich nun aktiv an den Protesten beteiligen. Die Protestaktionen dauern auch während des Fastenmonats Ramadan an, was die gesellschaftliche Mobilisierung weiter verstärkt. Eine weitere Großdemonstration in Istanbul wird für das kommende Wochenende erwartet, bei der mit mehreren Hunderttausend Teilnehmern gerechnet wird.
Soziologe Semih Turan betont, dass die Proteste nicht nur eine Reaktion auf die Verhaftung İmamoğlus darstellen, sondern eine allgemeine Kritik an der Politik der Regierung Erdoğan sind. Die Protestierenden aus verschiedenen politischen Lagern vereinen sich gegen die bestehenden Ungerechtigkeiten und sehen in dem Zusammenschluss der Opposition eine Möglichkeit, den Druck auf die Regierung zu erhöhen. Pelin Ünker, eine Journalistin, begleitet die Proteste und berichtet darüber, während die taz Panter Stiftung eine Podcast-Reihe mit dem Titel „Freie Rede“ plant, die sich mit den politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in der Türkei beschäftigt und einen Fokus auf die Protestkultur legt.